von Franz Ossing | Eine kurze Geschichte der Zeit: nach wissenschaftsfeindlichen Entscheidungen der neuen republikanischen Regierung formierte sich zunächst in den USA eine Protestbewegung, die in Form eines March for Science (M4S) auf Washington marschieren wollte. Diese Bewegung wuchs schnell an, von ersten Protesten in Boston anlässlich der jährlichen Tagung von AAAS bis zu einer weltweiten Bewegung mit über 600 teilnehmenden Städten. Auch in Deutschland fanden 22 Märsche statt, die über 37.000 Teilnehmende zählten. Allein in Berlin kamen nach abgesicherten Zahlen 11.000 Menschen zusammen.
Aus einer nationalen, auf die Vereinigten Staaten begrenzten Protestbewegung wurde eine weltweite Aktion, die weniger den Protest gegen eine Regierung darstellte als eher eine globale Demonstration für die Wissenschaft. Dass, wie in solchen Fällen üblich, die üblichen Bedenkenträgerinnen und gedankenvollen Querdenker allerhand Feuilletonistisches beizusteuern wussten, kann an dieser Stelle zunächst einmal außen vor bleiben. Die waren alle so mit sich selbst beschäftigt, dass sie das eigentlich Neue an dieser Bewegung kaum wahrgenommen haben.
Was war denn eigentlich los?
Man muss sich das mal in Ruhe durch die Hirnwindungen schieben: weltweit, auf allen Kontinenten (ja, dank AWI auch Antarktika) gehen Menschen für die Wissenschaft auf die Straße. Das hat es vorher nicht gegeben. Diese Bewegung war tatsächlich auch bottom-up, eine Graswurzelbewegung aus der Wissenschaft selbst. Die USA haben hier eine Sonderstellung, weil es sich hier um eine echte Protestbewegung gegen wissenschaftsfeindliche Politik, vulgo: Anti-Trump, handelte. Das erklärt aber nicht das Anwachsen dieser Märsche zu einer global agierenden Bewegung für die Wissenschaft. Anders ausgedrückt: wenn weltweit die Wissenschaft und Forschung auf die Straße geht, kann man das nicht mehr mit „Anti-Trump“ erklären, dann muss die Ursache woanders liegen.
Die Haupquelle für Fake News ist nicht das Weiße Haus.
Auf allen Kontinenten war Konsens, dass „alternative Fakten“ nicht nur ein Euphemismus für handfeste Lügen ist, sondern das sie eine Bedrohung für die Wissenschaft, nein, für die gesamte Gesellschaft sind: wenn politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche Entscheidungsträger mit Meinungen konfrontiert werden, die gleichberechtigt neben evidenzbasiertem Wissen stehen sollen, ist das Gemeinwesen selbst in Gefahr. Der menschgemachte Anteil am Klimawandel, die gesundheitliche notwendige Vorsorge durch Impfungen wurden hier als Beispiele angeführt, das Spektrum der Fake News geht aber quer durch das gesamte Feld der Natur-, Gesellschafts- und Geisteswissenschaften. (Politischer) Populismus nutzt das für seine Zielsetzungen aus. Insofern hatte der M4S natürlich eine politische Komponente inne.
Den M4S darauf zu reduzieren, wäre allerdings ziemlich falsch. Die Hauptquelle für Fake News tragen als Absender eben nicht die Adressen vom Weißen Haus oder der Regierungssitze von Erdogan, Orban oder Szydło, sondern das Kürzel „WWW“. Den ganzen Planeten umfassend, lassen sich zu jeder noch so unsinnigen These Belege im Internet finden, die das eigene, vorgefasste Urteil nochmals bestätigen. In der Folge wird damit wissenschaftlich erarbeitetes Wissen, werden also Forschungsresultate soweit relativiert, dass das Vertrauen in die Wissenschaft schwindet. Im Ergebnis halten 61% der Deutschen nach einer Allensbach-Umfrage von 2017 Expertenwissen für überbewertet. Präziser: eigentlich wird der Wissenschaft immer noch vertraut, aber ihr evidenzbasiertes Wissen wird mit jedem Unfug aus dem WWW gleichwertig gesetzt.
Es liegt auf der Hand, dass gerade die Wissenschaftler und Forscherinnen diesen Generalangriff auf ihre Tätigkeit als ziemlich beunruhigend empfinden. Dieses Unbehagen ist aus der Natur der Sache „Internet“ heraus global und wohl die eigentliche Ursache der WELTWEITEN Durchschlagskraft des M4S.
Da war die Wissenschaftskommunikation aber überrascht.
Als AAAS in den USA zum Marsch aufrief, war die Idee schon über den Teich geschwappt, so z.B. nach Potsdam, Berlin und München, wo sich WissenschaftlerInnen Gedanken darüber machten, ob so eine Aktion in Deutschland sinnvoll wäre. Wohlgemerkt: WissenschaftlerInnen, nicht unbedingt die Wissenschaftskommunikation. Eine durchaus nicht repräsentative Umfrage des Autors an einigen großen Forschungseinrichtungen und Hochschulen in der zweiten Februarhälfte dieses Jahres ergab, dass etliche hauptamtliche Forschungs-Öffentlichkeitsarbeiter vom M4S noch nichts gehört hatten.
Was aber nichts daran änderte, dass diese Bewegung aus der Wissenschaft selbst sich in Gang setzte und sowohl den Wissenschaftsjournalismus als auch beträchtliche Teile der Wissenschafts-PR (=Wissenschafts-Öffentlichkeitsarbeit) ziemlich überraschte, vor allem in der Durchschlagskraft.
Das Wissenschaftssystem schläft nicht.
Es sollte ein Marsch FÜR die Wissenschaft werden, kein Marsch DER Wissenschaft. In der Tat finden sich in den jeweiligen Unterstützerlisten der verschiedenen Städten (sofern vorhanden) eine ziemliche Bandbreite, vom Schäfer bis zur Hochschul-Präsidentin. Dennoch liegt der Schwerpunkt klar bei Menschen, die im Wissenschaftsbetrieb tätig sind. Daher lag sofort die Frage auf der Hand: was ist mit den Forschungsorganisationen, was macht die „Allianz“?
Auch hier war die Wissenschaft diesmal erstaunlich schnell. So positionierten sich die Präsidenten der DFG und der Helmholtz-Gemeinschaft zügig und positiv und auch die Allianz rief zum M4S auf, denn sie hatten schnell erkannt, dass es hier um die Kernsubstanz (nicht nur) der Wissenschaft und Forschung geht.
Zu diesem Zeitpunkt hatte auch die Wissenschafts-PR reagiert, war bereits aktiv geworden und unterstützte die jeweiligen lokalen Demos. Und zwar überall ehrenamtlich, freiwillig und – auch nicht immer einfach – überinstitutionell. Dass der M4S in Blogs und Tweets reichlich Thema war, versteht sich dann quasi von selbst.
Was aber die gesamte Wissenschaftskommunikation bisher nicht thematisiert, sind die Beweggründe und der organisatorische Werdegang des M4S. Weder gibt es eine Diskussion darüber, wieso hier die Wissenschaft quasi vorweg rannte und alle anderen hinterher, noch wird über die eigentlichen Ziele des M4S adäquat diskutiert. Dem sonst von mir durchaus geschätzten Joachim Müller-Jung fielen nur ironische Bemerkungen zu den Slogans ein, auf SciLogs befasste sich (gefühlt) jeder Kommentar mit den Unzulänglichkeiten des M4s im einzelnen und der Wissenschaftskommunikation im Allgemeinen, mit teilweise komischen Weltsichten. Aber die Frage: „Warum M4S und wieso weltweit?“ wurde eher stiefmütterlich behandelt und mit vorschneller Behandlung erledigt.
M4S als Symptom
Mit der Digitalen Revolution haben sich (in der Reihenfolge) das Informations- und Kommunikationsverhalten der Gesellschaft grundsätzlich umgestaltet, damit auch die Formen der Meinungsbildung und schließlich der politischen Willensbildung. Wohlgemerkt: wir sind erst am Anfang dieser Geschichte. Die Probleme, die sich aus dieser Umwälzung für die demokratischen Prozesse ergeben, stellen sich in ähnlicher Form auch in allen Bereichen der Wissenschaftskommunikation. Wenn es scheinbar kein gesichertes Wissen mehr gibt und das WWW-gesteuerte Bauchgefühl gleichwertig neben wissenschaftlicher Erkenntnis steht, gibt es ein Kommunikationsproblem – für alle.
Das Unbehagen, das sich im M4S äußerte, ist – so gesehen – ein Symptom. Die Erfordernisse der digitalen Kommunikation haben die Forschungseinrichtungen bisher damit beantwortet, dass sie ebenfalls Twitter- und Facebook-Accounts, Blogs etc. aufgebaut und Stellen für Webredaktion und Social Media geschaffen haben. Das ist auch gut so, weil notwendig. Aber, provokativ gesagt, was ist das anderes als noch mehr
zusätzliche Netz-Informationen, die zur weiteren Verwirrung von Laien zur Verfügung stehen? Natürlich traue ich einem Tweet des Deutschen Krebsforschungszentrums mehr als dem Gezwitscher der Transsylvanischen Homöopathie-Gesellschaft, aber weiß Ottilie Normalverbrauch das ebenfalls einzuschätzen?
Ja, immer noch zu gestalten: Wissenschaftskommunikation 4.0
Die derzeitige Umbruchsituation hat historische Ausmaße, vergleichbar mit der Industriellen Revolution. Insofern muss ein Vergleich mit dem Beginn der 1990er Jahre immer humpeln. Versuchen wir es trotzdem: Mit der Einführung des Privat-Rundfunks und –Fernsehens ab 1986 änderte sich die Medienlandschaft in Deutschland grundlegend, in der Folge auch der Informationskonsum. Das führte bis zur Mitte der 1990er Jahre zu einer Zersplitterung der deutschen Medienlandschaft und zu einem Abbau der Wissenschaft in den Medien. Als Gegenreaktion darauf entstand eine Initiative zur Wissenschaftskommunikation, die 1999 zum PUSH-Memorandum führte und, zusammen mit dem Medienwandel, zu einem Boom in der Wissenschaftskommunikation in Forschungseinrichtungen, Medien und Öffentlichkeit. Wer also heute den M4S als Beleg für eine gescheiterte Wissenschaftskommunikation anführt, ist entweder uninformiert oder ideologisch unterwegs.
Eine solche, gemeinsame Anstrengung zur Weiterentwicklung der Wissenschaftskommunikation ist heute erst recht notwendig, wenn wir die Information und Kommunikation über die Wissenschaft am Leben erhalten wollen. Der Unterschied zu den 1990ern ist allerdings gewaltig. Es handelt sich heute nicht um einen Medienwandel, sondern um eine gerade beginnende, globale Umwälzung, die das gesamte Arbeiten und Leben im globalen Maßstab erfasst. Darin ist die Wissenschaftskommunikation ein kleines, aber wichtiges Element, denn ohne Wissenschaft und Forschung werden die anstehenden Probleme nicht zu lösen sein. Diese Tatsache im Bewusstsein zu halten, das ist die eigentliche Kommunikationsaufgabe. Dafür muss aber erst noch das Wissen und das Werkzeug erarbeitet werden. Von mir aus nennen wir es PUSH2.0. Und: nein, das geht nicht in 140 Zeichen. Der M4S ist ein großartiger Anfangsimpuls. Machen wir uns an die Arbeit!
TL;DR? Dann bitte hierhin.