Es mag auf der Erde noch entlegenere Orte geben als die Neumayer-Station – viele sind es sicherlich nicht. Und neben den wertvollen wissenschaftlichen Erkenntnissen, die man nur hier sammeln kann, liegt gerade in der Tatsache, dass dieser Ort so einsam, schwierig zu erreichen und isoliert ist, ein Teil seines Reizes. Die Vorstellung, seinen Lebensmittelpunkt in einen Gefrierschrank zu verlegen, der in einem nur selten zugänglichen Windkanal steht, ist für viele wahrscheinlich weniger attraktiv.
Uns aber gefällt dieses ausgesetzte Sein und uns gefällt die Herausforderung, die darin liegt. Wir haben uns bewusst dafür und damit auch für eine gewisse Isolation entschieden. Wohlwissend, dass sie zeitlich begrenzt und sorgfältig vorbereitet ist. Denn wer vernunftbegabt und kein Anhänger von Zufall, Chaos und monatelangem, improvisiertem Wintercamping bei Tütennahrung ist, der ist gut beraten, einen Antarktisaufenthalt geplant anzugehen. Wenn im Februar mit dem letzten Flieger auch die letzte Möglichkeit, die Vorräte aufzustocken, das Dronning-Maud-Land verlassen hat, ist es für spontane Bestellungen zu spät – was dem eben noch freudig dem Flugzeug Nachwinkenden wenig später schon und dafür umso länger bewusst werden könnte.
Wer im März feststellt, dass die Station eine Schraube locker oder nicht alle Tassen im Schrank hat, wer im April vor leeren Essenslagern steht oder im Mai barfuß die Absenz von Reservesocken beklagt, der kann zwar vorübergehend mit Klebeband und Tassenteilen, einer Fastenkur und frierenden Füssen experimentieren, hat aber, gelinde gesagt, ein längerfristiges Problem. Zum nächsten Haushaltswarengeschäft, Bau-, Super- und- Bekleidungsmarkt ist es nämlich weit. Der Supermercado La Anonima in Ushuaia, Südamerika, liegt immerhin in 3.320 Kilometer, das Golden Acre Shopping Center in Kapstadt in 4.419 Kilometer Entfernung. Luftlinie wohlgemerkt, welche ohne Flugzeug nicht nur angesichts des südlichen Polarmeeres schwierig zu bereisen ist. Sicher, man könnte bei der momentanen Meereisbedeckung eine mehrwöchige Wanderung unternehmen und dann für die letzten paar hundert Kilometer auf einer Eisscholle ein Bettlaken hissen. Aber wirklich praktikabel ist das nicht.
Zudem ist dort von unzureichenden Lagerbeständen an für hiesige Breiten relevanten Ersatzteilen auszugehen. Sicher weiß ich es nicht, aber Zweifel an einer übermäßigen Nachfrage an Pistenbullyketten und Skidookufen in Südafrika scheinen berechtigt. Das Allermeiste wird aber ohnehin mit dem deutschen Forschungs- und Versorgungseisbrecher „Polarstern“ aus Bremerhaven geliefert. Sofern man es rechtzeitig bestellt hat. Und rechtzeitig heißt: Ungefähr jetzt.
Richtig bestellen kann dabei aber nur der, der auch weiß, was er braucht. Um aber zu wissen, was man braucht, muss man prüfen, was man hat. Also: Inventur. Oder besser gesagt: Inventur, Inventur, Inventur. Während der letzten vielen Wochen wurde, neben dem Routinebetrieb, in der Atkabucht so ziemlich alles gezählt, was man zählen kann.
Das ist gleichermaßen aufwändig wie notwendig. Und bietet neben der Grundlage für eine sinnvolle Bestellung auch die Gelegenheit, das sichere Beherrschen des Zahlenraumes bis 1.000 sowie der Grundrechenarten eindrucksvoll unter Beweis stellen zu können. Wohl dem, der Graf Zahl in der Sesamstrasse seine volle Aufmerksamkeit schenkte und jetzt glänzen kann. Eine wunderbare Beschäftigung und Quell großer Freude. Doch jegliches hat seine Zeit, auch die Inventuren. Wie schade, dass mit ihnen der Zauber des fortgesetzten Zählens zu Ende ging. Als Trost aber bleibt jetzt wieder mehr Zeit für anderes.
Für Pinguine zum Beispiel. Und das genau zur rechten Zeit. Denn aktuell schlüpfen die Kleinen. Wie viele es sind, ist allerdings unklar. Sie gehören zu dem Wenigen, das ungezählt blieb.
Viele Grüße von der Neumayer-Station, an der alle Schrauben fest sitzen und sämtliche Tassen im Schrank sind.