Ich habe in den vergangenen Wochen der samtweichen Alt-Stimme von Ella Fitzgerald und der begleitenden Trompetenstimme von Louis Armstrong in dem Lied „Summertime“ oft gelauscht: Auf dem Laufband konnte ich häufig am Feierabend mit Blick auf den Palmenstrand (natürlich nur als Poster an der Wand) die flirrende Sommerhitze geradezu spüren. Es ist Sommer, auch im Fitnessraum der Neumayer-Station III. Aber, ehrlich gesagt, so richtig „easy“ war der Sommer hier dann doch nicht wirklich …
Nun liegen zwei sehr lebhafte Monate hinter uns, es sind die Monate der sogenannten Sommerkampagne.
Jeden Sommer teilen sich hier auf der Station neben den „Alt-ÜWI’s“ (ÜWI steht für Überwinterer) und den „Neu-ÜWI’s“ auch die Sommergäste die vorhandenen Zimmer der Station. Die anwesenden Sommergäste gliedern sich dazu im Wesentlichen in zwei Gruppen: Techniker und Wissenschaftler. Um zusätzliche Übernachtungsplätze zu schaffen, werden von den Ingenieuren „Kabausen“ außerhalb der Station aufgestellt. Das sind bewegliche, zum Teil 1970er-Jahre farbige orangene Wohncontainer, die auf Schlitten gezogen werden können. Die ganze Station bekommt dann eher den Charakter einer Jugendherberge mit Stockbetten, Zwei- bis Sechs-Bett-Zimmern, abendlichen Tischkicker-/Tischtennis-Tunieren und natürlich einem Herbergsvater. Hier wird er kurz FOM genannt, welches für Field Operation Manager steht. Diesen Sommer hat Tim Heitland diese spannende Rolle des Expeditionsleiters der Sommerkampagne wunderbar erfüllt.
In dem ganzen Gemenge an Personen spüre ich auch, dass die Individualität des Einzelnen das größte Maß an Toleranz und Flexibilität mit sich führen muss. Privatsphäre ist hier gerade im Sommer selten wie frische Blumen in der Antarktis. Abendliche Ausfahrten zur Erkundung des Geländes sind da schon eine willkommene Abrundung des Tagesgeschehens.
Die Sommerkampagne bringt arbeitsreiche Wochen mit sich, dieses Jahr aber ganz besonders:
Die Sommergäste sind zahlenmäßig wegen der virusbelasteten Umstände auf ein Minimum reduziert, besonders im Technikbereich ist ein sehr dichtes Arbeitsprogramm in noch kürzerer Zeit zu bewältigen. Aber ich fange besser von vorne an…
Übergabe der ÜWI-Fachbreiche
Nach unserer Ankunft bei traumhaftem, windstillem Wetter und sommerlichen Temperaturen um minus 10 Grad Celsius werden wir Neu-ÜWI’s von den Alt-ÜWI’s unmittelbar in unsere Fachbereiche eingeführt. Das liest sich einfach, ist aber ein mehrwöchiger Prozess, da viele Handgriffe, viele Datenanalysen, viele Fehlerbehebungen (troubleshootings) im Einzelnen hier vor Ort von den Vorgängern abgeschaut und dann selber reproduziert werden müssen. Fast alle von uns Neu-ÜWI‘s haben dabei ein Notizbuch stets griffbereit, meines umfasst circa 50 DIN-A5-Seiten handschriftlicher Einträge. Dazu gibt es hier eine Art Wiki für ÜWI’s im Intranet, um Prozesse zu ordnen und um gegebenenfalls mal etwas nachlesen zu können.
Ich persönlich finde diese Zeit der Übergabe rückblickend doch recht anstrengend, da ich viele verschiedene Aufgaben habe, die hier nur am Rande etwas mit dem zu tun haben, was mich als Chirurg bisher beschäftigte. Neben Blut- und Trinkwasseranalysen über Prüfungen der Röntgenkonstanz geht mein Bereich über die Pflege und Wartung der zahnmedizinischen Geräte und Putzen des Hospitals / Getränkeleitungsreinigung bis hin zum Stationsleiter, Herbergsvater der Neu-ÜWI‘s und Hausarzt der Belegschaft.
Gelegentlich versuche ich mich als medienverantwortlicher Blog-Anfänger dazwischen: Ich habe mir als Ziel gesetzt, möglichst plastisch und realitätsnah die Station und das Drumherum hier darzustellen, damit einerseits potentielle Bewerber für die Arbeit hier auf Neumayer an die notwendigen Informationen kommen können und andererseits auch virenüberdrüssige Leser den Blick mit mir in die Ferne schweifen lassen können.
In der Mitte der Sommerkampagne erfolgt dann die Übergabe der Bereichsverantwortung. Diese Übergabe ist für alle feierlich: Klaus und ich hatten dazu bayerische Tracht an und ich bekam am 26. Februar von ihm den Stationsschlüssel symbolisch überreicht.

Buffet zur Stationsübergabe an das 41. ÜWI-Team (Foto Peter Jonczyk)

Der ca. 2 kg schwere Stationsschlüssel der Neumayer-Station III (Foto Peter Jonczyk)
Die zweite Hälfte der Übergabe achtet dann der „Alt-ÜWI“ darauf, ob der „Neu-ÜWI“ alles richtig macht, und steht für Fragen zur Verfügung. Das ist wirklich vom AWI gut geregelt und man erkennt 40 Jahre Erfahrung im Überwinterungsgeschäft. Kaum ein Politiker oder Firmenchef bekommt so eine gute Übergabe vermute ich.

Julia und Linda bei Sturm im Pegelmeßfeld (Foto Peter Jonczyk)

Täglicher Filterwechsel in der Spuso (Foto Peter Jonczyk)

Gefahren müssen erkannt werden: Ein Riss (Crack) im Eis (Foto Peter Jonczyk)
Achtung Fahranfänger!
Die ganze Übergabe fängt übrigens bereits mit einem simplen Erfahrungsaustausch an: Was ziehe ich heute an? Bei 30 Knoten Wind und minus 9 Grad sollte die richtige Kleidung getragen werden, um eine Fehlentscheidung nicht nach zwei Stunden zu bereuen. Sonnencreme und Gletscherbrille werden uns zum treuen Begleiter.
Und sie hört bei Detailfragen auf: Wie verpacke ich Sterilgut, bevor ich es im Hospital sterilisieren kann, und wie geht der begleitende Bowie Dick Test oder eine Sporenprobe?
Ich erinnere mich, dass ich bei meiner ersten Skidoo-Fahrt das verflixte Ding nicht ausreichend in meine Gewalt bringen konnte. Das hat sich inzwischen – dank Erfahrungsaustausch und Fahrpraxis – zu meinem Vorteil geändert. Ich sehe es in Gedanken noch vor mir: Das rote dreieckige Schild mit dem Hinweis, dass ich bei dem Fahrzeug vor mir mit allem rechnen muss. Achtung Fahranfänger im Umfeld der Station!
Auch Raupenfahren in der Praxis ist ja erst hier auf Neumayer erlernbar und nicht in der Vorbereitungszeit in Bremerhaven. Im Sommer ist rund um die Station bei gutem Wetter ein wirklich reger Verkehr: Raupen, Skidoos, Schlitten, Arctic Trucks und Fußgänger kreuzen sich. Alle Fahrzeuge stehen zeitweise vor der Tür, keines ist abgeschlossen. Ein Wunder, dass bei so vielen Fahranfängern und so dichtem Verkehr selten etwas passiert.

Wissenschaftler der Sommerkampagne v.l.n.r. Tim Heitland (AWI), Vincent Vrakking (DLR), Holger Schmithüsen (AWI), Rolf Weller (AWI), Loretta Preis (AWI), Tanja Fromm (AWI) und Felix Riess (RFL) (Foto Peter Jonczyk)
Begleitend zu der persönlichen Übergabe kümmern sich die hier anwesenden wissenschaftlichen Mentoren darum, dass die Kontinuität der wissenschaftlichen Bereiche eingehalten wird. Die Gefahr wäre ja erkennbar, dass mit jeder ÜWI-Übergabe im Sinne einer stillen Post ein Informationsverlust in den Arbeitsbereichen entsteht. Die Ergebnisse würden verfälscht und der Zweck der Mission gefährdet werden.
Die IT-Crew tauscht unter anderem den alten Datenspeicher gegen einen neuen mit 450 Terrabyte, die Daten werden wochenlang kopiert. Ein Backup von nochmals 450 Terrabyte kommt dazu, daneben werden noch über 20 in die Jahre gekommene PC’s und Monitore getauscht sowie die Verbindungen zu den Observatorien optimiert.
Die Geophysiker und Meteorologen starten gleich nach Ankunft der Polarstern zu einer sieben-tägigen Traverse, das ist eine wissenschaftliche Exkursion zu den weiter außerhalb gelegenen Observatorien. Solche Traversen sind keine Ausflüge im herkömmlichen Sinn und sie müssen logistisch sehr gut geplant sein. Unterwegs wird spartanisch in einer Kabause, die von einer Raupe gezogen wird, gekocht und geschlafen. Tagsüber ist harte Arbeit angesagt: Mit Raupen und Schaufeln werden die Seismometer und die Elektronik der Außenstation ausgegraben und gegenüber dem Schneezutrag erhöht sowie die Elektronik geprüft und gegebenenfalls instand gesetzt. Das sind Dinge, die im Winter nur unter massiven Anstrengungen und Gefahren zu erledigen wären. Alles funktioniert dann zusammen mit der Erfahrung der wissenschaftlichen Betreuer ohne große Probleme und gebräunt von der Arbeit unter freiem Himmel kommen alle wohlbehalten zurück zur Station. Die erste Dusche nach Tagen lässt die Anstrengungen bald vergessen…

Aufbruch zu einer sieben-tägigen Traverse (Foto Lorenz Marten)
Das Technikteam steht unter Druck
Planänderungen sind wetterbedingt praktisch täglich umzusetzen. Das betrifft besonders das Technikteam unter der Leitung von Stefanie Bähler. Notwendige Außenarbeiten müssen oft sturmbedingt immer wieder aufgeschoben werden und die kurzen „Wetterfenster“ werden intensiv genutzt. Florian und Markus sind immer dabei und lernen die verschiedenen Bereiche kennen. Photovoltaik-Elemente werden mit Kränen exakt positioniert und sicher fixiert. Die gesamte Station wird hydraulisch erhöht, die Garage planiert und viele Observatorien bedürfen der jährlichen Erhöhung oder Inspektion. An den Raupen werden die vielen mechanischen Teile gewartet und zum Teil getauscht, was in den Wintermonaten technisch kaum oder nicht möglich ist. Container müssen mit der Kettensäge aus dem Eis geschnitten und versetzt werden. Durch die verkürzte Zeitspanne, die den Technikern dieses Jahr zur Verfügung stand, war dies eine enorme Leistung.
Wenn ich in meinem ersten Eintrag schrieb, dass die Neumayer-Station III ohne das Forschungsschiff Polarstern nicht existieren würde, so ergänze ich es nun um die Techniker der Sommerkampagne. Sie machen die Station, die Observatorien und den Fuhrpark erst für uns ÜWI’s für die kommenden Monate im Winter nutzbar. Manche unter ihnen haben schon zusammengenommen mehr als zwei Jahre ihres Lebens dafür hier verbracht. Danke dafür an Euch, liebe Techniker!
Mein Schreibtischmonitor vibriert…
Ich lebe mich hier auf der aus Stahlcontainern aufgebauten Station gut ein und gewöhne mich an das Vibrieren der Wände ab circa 40 Knoten Windgeschwindigkeit. Es ist fast so wie in einem Flugzeug, wenn es über die Startbahn rast. Mein Schreibtischmonitor vibriert ab circa 25 Knoten, ebenso wie die zwei langen Notausstiegsleitern auf Deck 1. Meine Tischlampe und mein Bett vibrieren ab 40 Knoten oder wenn die Wäsche auf Deck 2 geschleudert wird. „Deck 2“, ich habe mich an die Nomenklatur der Schiffsbranche hier auf Neumayer schon irgendwie gewöhnt. Die Station wird ja auch beredert. Windstill fühlt es sich hier noch bis circa 4 Knoten an.
Eisberg voraus!
Am 8. März finden Klaus und ich bei einer Erkundungsfahrt einen circa 80 Meter hoch aus dem Meereis herausragenden Tafeleisberg, der sich da seit 5 Tagen gemäß der täglichen Satellitenbilder festgesetzt hat, direkt am Nordanleger an der Schelfeiskante. Das Meereis wirkt kompakt, es ist Herbst. Wir machen uns Gedanken im Team um Plan B, da die Polarstern in wenigen Tagen direkt dort anlegen soll, doch da ist er schon wieder weiter gezogen und das gesamte Meereis mit ihm. Erleichterung!
Alle Mann an Bord, fast alle…
Jetzt ist dann doch alles geschafft und am 18. März legt die Polarstern an der Eiskannte nach einem schweren Herbststurm wieder an, um zuerst die Rückfracht an Bord nehmen zu können. Rückfracht, das sind Container mit unserem Abfall, denn wir dürfen hier diesen nicht einfach zurücklassen, nicht einmal unsere Exkremente. Rückfracht, das ist auch wissenschaftliches Material, wie zum Beispiel auch unsere Serumproben für medizinische Studien, die in Kühlcontainern bei minus 25 Grad (sogenannte Reefer) durchgehend gekühlt über den Äquator zurück nach Bremerhaven gelangen. Das ist zum Beispiel unser alter Steri, der von der Technik eine durchaus schicke Transport-Holzkiste geschreinert bekam und nun zurück nach Bremerhaven geht. Das sind die alten PC’s, Altöle, Schmierstoffe, Essensreste und und und…
Doch wieder macht das Wetter einen Strich durch die Rechnung: Am Abend muss die Polarstern zügig die Eiskante verlassen, denn das Meereis wird immer dichter. Die nun noch wichtigste Rückfracht und die Sommerbelegschaft werden am 19. März über einen Heli-Shuttle an Bord genommen und um 18:00 Uhr winken wir unseren letzten Technikern freundlich nach…. Ich bin froh, dass alle nun sicher an Bord gekommen sind, fast alle, denn wir ÜWI’s bleiben natürlich zurück.
Abschied… (Zeitraffervideo Peter Jonczyk)
Nun stehen wir hier alleine da als Überwinterer. Fünf Monate Vorbereitungszeit, dazu ein Monat Schiffstransport und zwei Monate Einarbeitungszeit liegen hinter uns. Es fühlt sich aufregend und magisch an: Wir sind auf uns gestellt und glücklich, es erreicht zu haben.
Die 41. Überwinterung: Let’s go!
Wir genießen am Tag danach unsere neue Privatsphäre und richten uns unsere Zimmer nun persönlich ein. Die Bettwäsche der 24 Sommergäste muss gewaschen werden, wir sitzen nun in der sonst belebten Messe (Speiseraum) alleine…. und sind am Ziel angekommen. Der Weg bis zu unserer Überwinterung war lang und anstrengend, aber auch schön. Über diesen Weg der Vorbereitung werde ich in einem der nächsten Blogbeiträge schreiben…
Bleibt gesund!
Grüße aus der Container-WG am Ende der Welt
Ihr / Euer Peter Jonczyk