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Spiegelauge 2017-02: Wissen will frei sein

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In den USA überschlagen sich die Ereignisse nach der Amtseinführung von Donald Trump zum Präsidenten. WissenschaftlerInnen befürchten, in ihrer Forschungs- und Redefreiheit beschnitten zu werden, weil die neue Regierung unter anderem offensiv die Ansicht vertritt, der Klimawandel sei nicht real. Die Regierung Trump hat bereits einige alarmierende Schritte unternommen, doch besonders auf Twitter regt sich kreativer Widerstand. Eine atemlose Bestandsaufnahme, die jederzeit von den Ereignissen überholt werden kann.

#WomensMarch in der Antarktis

Die Proteste am Tag nach der Amtseinführung brachten unter dem Hashtag #WomensMarch mindestens einige Hunderttausend Demonstranten in aller Welt zusammen. Auch in der Antarktis, wo meist nur wenige Reisende und Forscher unterwegs sind, gab es solche Aktionen. Das bekannteste Foto zeigt eine Gruppe von Ausflüglern auf einem Schiff im Neko Harbor, am nördlichen Ende der antarktischen Halbinsel:

Doch nicht nur Ausflügler, sondern auch Forscher im Dienst nahmen an den Protesten teil, wie dieser Tweet einer Wissenschaftsjournalistin von der McMurdo-Station am anderen Ende des Pazifik zeigt. Der Tweet erklärt auch, dass sie ohne Schilder auftreten, weil sie diese nicht aus Arbeitsmaterialien hätten herstellen dürfen:

Wissenschaftliche Freiheit in Gefahr

Schon am Tag der Amtseinführung fiel auf, dass die Trump-Regierung auf ihrer neuen, eigenen Webpräsenz des Weißen Hauses keine Informationen über Klimapolitik mehr bereithielt. Befürchtungen eines radikalen Wandels in der Klima- und Umweltpolitik hatte es seit Trumps Wahl gegeben. So hatte in den Wochen nach der Wahl etwa die Umweltschutzbehörde EPA noch eilig versucht, neue Vorschriften zum Treibstoffverbrauch in Kraft zu setzen.

Eine der ersten Stellen, die in den Fokus der neuen Regierung gerieten, war der National Park Service, der für Nationalparks und Teile des öffentlichen Raums in Washington DC zuständig ist. Vom offiziellen Twitter-Account der Behörde, @NatlParksService, kamen am Tag von Trumps Amtseinführung einige Retweets, die sich über die weit geringeren Teilnehmerzahlen gegenüber der Amtseinführung von Barack Obama lustig machten. Wenig später waren die Retweets gelöscht, und der Account entschuldigte sich:

Präsident Trump setzte nach einem Bericht der Washington Post in der Folge sogar persönlich die Führung der Behörde unter Druck, weil deren offiziell herausgegebene Fotos der Feierlichkeiten in Washington DC seiner Meinung nach zuwenige Menschen zeigten.

Der Twitter-Account eines Nationalparks im South Dakota begann daraufhin, Klimawandel-Daten zu twittern:

Wenig später wurden auch diese Tweets gelöscht. Es steht zu vermuten, dass nicht nur allgemeine Abneigung gegen den neuen Präsidenten, sondern auch konkrete politische Entscheidungen eine Rolle spielten, etwa eine Entscheidung des US-Kongress, Nationalpark-Land für wertlos zu erklären und damit einer Einverleibung durch die US-Bundesstaaten preiszugeben.

Auch der Umweltschutzbehörde EPA wurden am selben Tag die Twitter-Accounts stillgelegt, kurz nachdem praktisch alle Geschäfte der Behörde von der neuen Regierung eingefroren worden waren.

Nach diesen Maßnahmen gegen die offiziellen Accounts der Behörden tauchten auf Twitter plötzlich „Rogue Accounts“ auf, grob zu übersetzen mit „Rebellische/Wilde/Unkontrollierte Accounts“, deren Erscheinungsbild und Aussagen darauf hindeuten, dass hier Behördenmitarbeiter aktiv sind:

Einige dieser Accounts traten zunächst offensiv mit dem Logo der eigentlichen Behörde auf und bekannten sich dazu, von Mitarbeitern betrieben zu werden. In der Folge unternahmen sie jedoch diverse Schritte, sich in dieser Hinsicht weniger angreifbar zu machen:

Es mehren sich auch berechtigte Rufe zur Vorsicht, was die Authentizität der inzwischen zahlreichen Rogue Accounts angeht:

March for Science

Aus der Twitter-Bewegung für die Redefreiheit wissenschaftlicher Einrichtungen ist auch innerhalb kürzester Zeit die Idee entstanden, Demonstrationen in der Hosenwelt durchzuführen. Das zentrale Vorhaben nennt sich „March for Science“, und hat wie die meisten der Rogue Accounts bereits einige Zehntausend bis Hunderttausend Follower auf Twitter:

Ein Datum für die Demonstrationen wird derzeit noch beraten, doch das Interesse ist bereits jetzt groß. Möglicherweise finden sich auch in Deutschland Leute, die für Wissenschaftsfreiheit bereit sind, auf die Straße zu gehen. Willkommen sind alle, ob Wissenschaftler oder Unterstützer:

Wie weiter? Lektionen aus Kanada

Die Aufmerksamkeit für die Anliegen der WissenschaftlerInnen ist überraschend und ermutigend, aber wie kann auch institutionell die Freiheit der Forschung sichergestellt werden? Ernüchternde Einblicke in die wissenschaftliche Arbeit unter einer repressiven Regierung liefern Erzählungen aus Kanada vor dem jüngsten Regierungswechsel. Der Autor Michael Oman-Reagan widmete sich kurz nach Trumps Amtseinführung dem Thema in einem langen Twitter-Thread. Auch kanadische „March for Science“-Aktivisten erinnerten an diese Zeit:

Archive und Bibliotheken

Gegen mögliche Löschanweisungen, die Behörden ereilen könnten, hat das Internet Archive dazu aufgerufen, bei der Sicherung von Internetseiten mit wissenschaftlich oder anderweitig relevanter Information zu helfen. Das Internet Archive selbst hat bereits vor einigen Wochen eine Kampagne begonnen, eine Sicherungskopie in Kanada zu errichten.

Ein Mitarbeiter des Internet Archive demonstrierte in einem Tweet, wie es beispielsweise von der Webseite der Umweltschutzbehörde EPA gelöschte Informationen über den Klimawandel bewahrt:

Und dann sind da noch diejenigen, deren Hauptaufgabe es ist, Informationen und Fakten zu sammeln, zu pflegen und auffindbar zu halten: Bibliotheken.

Wie es weitergeht, entscheidet sich ab heute jeden Tag neu in zahllosen Bibliotheken, Büros, Laboren und sogar Twitter-Accounts, nicht nur in den USA, sondern letztlich überall auf der Welt.


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